Leonor Fini

Leonor Fini, Fotografiert von Dora Maar, um 1936
© VG BILDKUNST 2021/ Courtesy Gallery Minsky
1907 – 1996 / französische Malerin argentinisch-italienischer Herkunft
„Ich male Bilder, die es nicht gibt, doch die ich gerne sehen würde.“
Leonor Fini

Es ist das Jahr 1924 als André Breton gemeinsam mit gleichgesinnten Künstlern in Paris sein surrealistisches Manifest und darin eine befreite Kunst verkündet, die jede äußere Wirklichkeit negiert und alles Übernatürliche feiert. Abseits des Pariser Kunstspektakels findet zur selben Zeit im überschaubaren Triest eine Gruppenausstellung statt, auf der die Werke einer gerademal 17 jährigen Künstlerin faszinieren: Leonor Fini. Nur wenige Jahre später soll sich der Weg der jungen Künstlerin mit den Wegen der Pariser Surrealisten kreuzen.

Eigensinnige Autodidaktin

Leonor Finis Leben ist das einer Freiheitsliebenden. Sie wird in Argentinien geboren, doch ist gerade einmal ein Jahr alt, als ihre Mutter vor dem tyrannischen Ehemann nach Italien flieht. Nach Entführungsversuchen des Vaters wird die kleine Leonor als Junge verkleidet, wenn sie das Haus verlässt. Das zwitterhafte Leben wird typisch für sie: die Welt als Bühne, das Heraustreten an die Öffentlichkeit verknüpft mit einem Verstecken hinter Verkleidungen und Masken. Als Kind ist sie äußerst phantasievoll und wächst zur kleinen Rebellin heran. Bald gilt sie wegen ihrer Aufsässigkeit in allen Schulen Triest als nicht unterrichtbar. So setzt sie ihre Studien in der großen Bibliothek des Onkels selbständig fort. Sie entdeckt ihre Leidenschaft fürs Zeichnen, für Farben, Malerei und organische Stoffe, die sie in ihre Bilder integriert. Ohne akademische Ausbildung schult sich die eigensinnige junge Frau an alten Meistern und eignet sich eine malerisch höchst ausgefeilte Technik an, die vom italienischen Manierismus, von deutscher und flämischer Romantik sowie dem magischen Realismus gleichfalls inspiriert ist. Auftragsarbeiten in Mailand sowie die Freundschaft mit den italienischen Wegbereitern des Surrealismus, Carlo Carrà und Giorio De Chirico, folgen.

Leonor Fini „Stryges Amaouri“, 1947
© VG BILDKUNST 2021/ Courtesy SCHIRN Kunsthalle, Frankfurt / Foto: KOBERSTEIN FILM
Fini erobert die internationale Ausstellungsbühne

1931 lockt Paris, hier begegnet Leonor Fini den wichtigsten Surrealisten – Georges Bataille, Henri Cartier-Bresson, Paul Éluard, Max Ernst, René Magritte, Salvador Dalí und Man Ray. Selbstbewusst realisiert sie surrealistische Kompositionen, die auf den großen Surrealisten-Ausstellungen gezeigt werden, wie 1936 auf der International Surrealist Exhibition in London oder der Fantastic Art, Dada, Surrealism im Museum of Modern Art in New York. Auf der wegweisenden MoMA-Schau hängen Finis phantastische Traumwelten neben den bekannten Werken des heutigen Who-is-Who des Surrealismus. Auch zahlreiche andere Künstlerinnen – Meret Oppenheim, Leonora Carrington, Toyen, Dorothea Tanning oder die Filmemacherin Germaine Dulac – stellen mit den Surrealisten aus. Die Bewegung scheint ausgesprochen fortschrittlich, ja feminin, und lehnt alle traditionell maskulinen, patriarchalischen und imperialistischen Strukturen ab. Ausdrücklich bekämpft sie die bürgerliche Familie, welche als Hauptübel für die Unterdrückung der Frau gilt. Damit ist die surrealistische Gruppe ein starker und zu dieser Zeit äußerst seltener Anziehungspunkt für freiheitsliebende junge Künstlerinnen. 

Eine feminine Bewegung!?

Die Bewegung scheint ausgesprochen fortschrittlich, ja feminin, und lehnt alle traditionell maskulinen, patriarchalischen und imperialistischen Strukturen ab. Ausdrücklich bekämpft sie die bürgerliche Familie, welche als Hauptübel für die Unterdrückung der Frau gilt. Damit ist die surrealistische Gruppe ein starker und zu dieser Zeit äußerst seltener Anziehungspunkt für freiheitsliebende junge Künstlerinnen. 

Leonor Fini vor ihren Arbeiten im MoMA, New York 1936
Courtesy Gallery Minsky

Zugleich ist das Verhältnis der Gruppe zu Frauen ein widersprüchliches. Keine andere Kunstrichtung hat die Frau, die Sexualität, das Begehren und den weiblichen Körper so ins Zentrum ihrer Kunst gerückt wie der Surrealismus. In der subversiven Kraft der Liebe sehen die Surrealisten den Motor ihrer Kunst. In ihren Werken wimmelt es von Frauenstilisierung als Teufelin, Puppe, Fetisch, Kindfrau oder Traumwesen. Diese Omnipräsenz des weiblichen Körpers in der surrealistischen Kunst stellt die Künstlerinnen nicht zuletzt vor die Aufgabe, mit eigenen Sichtweisen vom passiven Objekt zum agierenden Subjekt zu werden. 

„Fini ist ein wirklich hintergründiges Künstlerwesen.“
Ingrid Pfeiffer, Kuratorin SCHIRN Kunsthalle
Subtiler Konterschlag

Besonders augenfällig ist dieser Prozess in dem sehr freien Werk Leonor Finis, welches viele männliche schlafende Akte enthält, die von wachen, starken, bekleideten Frauenfiguren überragt werden. Damit vollführt Fini einen subtilen Konterschlag, dreht die Machtverhältnisse um und spielt mit kunsthistorischen Motiven – aus der schlafenden Venus wird ein schlafender Eros, bewacht von der aktiven Frau, die den Betrachter auffordernd anblickt. 

Leonor Fini „Erdgottheit, die den Schlaf eines Jüngling bewacht“, 1946
© VG BILDKUNST 2021/ Courtesy SCHIRN Kunsthalle, Frankfurt / Foto: KOBERSTEIN FILM
„Leonor Fini fasziniert durch ihre Selbstinszenierung, sie war eine Art Gesamtkunstwerk. Sie hat sich inszeniert wie wir es heute von Cindy Sherman kennen oder von Lady Gaga. Sie hat Kostüme getragen, sie hat Geschlechterrollen umgedreht, sie hat einen jungen Liebhaber gehabt und einen älteren gleichzeitig, sie war kritisch den anderen Surrealisten gegenüber. Viele Aspekte an ihr sind modern.“
Ingrid Pfeiffer, Kuratorin SCHIRN Kunsthalle
Pionierin des Crossover

Trotz ihrer großen geistigen Nähe zu den surrealistischen Ideen, wahrt Leonor Fini Distanz und wehrt sich gegen die Zuordnung »Surrealistin«, wie übrigens auch zahlreiche ihrer Künstlerkolleginnen. Fini kann mit der autoritären Art André Bretons und seinen »Gesetzen« nichts anfangen. Zudem ist sie auch nicht darauf angewiesen, bald widmet ihr die Julien Levy Gallery in New York ihre erste Einzelausstellung. Ihre phantastische Malerei, die eine regelrecht barocke Pracht entfaltet, ist bevölkert von magischen Wesen und Tieren, die der exzentrischen Künstlerin als Vermittler zwischen der irdischen und göttlichen Sphäre gelten. Neben ihrer Malerei schafft Fini vielfältige Bühnen- und Kostümentwürfe für Oper, Ballett, Theater und Film und illustriert zudem Werke bekannter Autoren, wie Baudelaires »Blumen des Bösen«. Ein heutiger Blick auf ihr Werk feiert sie als Pionierin des Hybriden und des Crossover. Bis zu ihrem Tod 1996, lebt und arbeitet die mittlerweile 87 jährige Leonor Fini nahezu vergessen in Paris – umgeben von ihren 17 Katzen, denen sie sich bis zuletzt näher fühlt als den Menschen.

Leonor Fini „Selbstportrait“, 1941